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Beitrag vom 05.01.2013
Audre Lorde – die Berliner Jahre 1984 - 1992
Bärbel Gerdes
Vom Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie und dem Mangel nicht harmonisierender Bettwäsche - dieser wunderbare Dokumentarfilm zeigt die afro-amerikanische Dichterin, Aktivistin und ...
... lesbische Mutter politisch und privat.
1984 lud Dagmar Schulz, Mitgründerin des Orlanda-Verlags und Dozentin am John-F.-Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin Audre Lorde als Gastprofessorin in ihr Institut ein. Audre Lorde kam – und trug dadurch maßgeblich zur Entstehung einer Schwarzen Frauenbewegung in Deutschland bei.
Zeitgleich wurden erste Texte von ihr auf deutsch im Orlanda Frauenverlag veröffentlicht.
Zwanzig Jahre nach ihrem Tod produzierte Schulz einen Film über eben jene Berliner Jahre 1984 bis 1992, in denen Lorde so oft die Stadt besuchte. Ihre Motivationen dazu sind zahlreich: sie möchte mitwirken bei der Benennung und dem Finden einer Identität Schwarzer Frauen in Deutschland, sie hält Vorlesungen und Vorträge, sie lädt ein zu ihren großartigen Lesungen und sie findet hier Linderung und Unterstützung für ihre Krebserkrankung.
"Manfred Kuno [Naturheilkundler, Anm.d.Red] schenkte Lorde wertvolle Jahre", so Lordes Partnerin Gloria Josephs.
Ihre Einladung an die ihre Vorlesungen besuchenden Schwarzen Frauen, vorwiegend Lesben, sich mit ihnen separat zu treffen, bringt sie ins Gespräch. "Ich möchte, dass ihr mit mindestens einer anderen Schwarzen Frau gesprochen habt, bevor ihr diesen Raum verlasst.", ist Lordes Aufforderung. So reden erstmals die Frauen miteinander, die danach die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland begründen werden: May Ayim, Katharina Oguntoye, Katja Kinder und viele andere. Sie, die bis dahin keinen Namen hatten, keine Identität – angesehen als fremd in Deutschland, da es "keine Schwarzen Deutsche gibt" – können sich plötzlich benennen und eine Identität entwickeln, die einher geht mit Kampfeswillen und Stolz.
Wie schmerzhaft dieser Prozess ist, zeigen die Interviewausschnitte dieses Films.
Die persönlichen Video- und Audioaufzeichnungen von Dagmar Schulz zeigen Lorde noch einmal mit all ihrer Präsenz und Macht. Wer ihre Lesungen besuchte, wird ihren charakteristischen Lesestil nicht mehr vergessen, der überging in ein Singen ihrer Texte. Wer ihre Vorträge miterlebt hat, wird die drängenden Aufforderungen Lordes, Schweigen in Sprache und Handeln umzusetzen, gut in Erinnerung haben. Ich als weiße Lesbe fühlte mich oft wie durchgeschüttelt nach diesen Begegnungen.
Audre Lorde kommentiert aber auch die politischen Veränderungen in Berlin. Wie sehr sich das Leben für Schwarze Menschen nach dem Mauerfall 1989 änderte, wie grässlich das rassistische Antlitz Deutschlands plötzlich offenbar und offensichtlich wurde, wie sehr sich die weißen deutschen VaterländerInnen zusammen taten und alle, die als "nicht-deutsch" definiert wurden, ausgrenzten, wird in diesem Film mahnend gezeigt. In dieser Zeit schreiben Lorde und Josephs einen offenen Brief an Kanzler Kohl, der in zahlreichen Tageszeitungen abgedruckt wurde – Kohl reagierte nicht.
Doch lernen wir auch eine ganz andere Lorde kennen, die private, gesellige, fröhliche und zunehmend kranke. Wie gerne sie mit anderen feierte, diskutierte, in Kontakt war, zeigen zahlreiche Szenen dieses Dokumentarfilms.
Die DVD bietet neben Erinnerungen ihrer Wegbegleiterinnen zusätzlich Lesungen von Lorde in ihrem letzten Lebensjahr und Ausschnitte aus der Gedenkveranstaltung nach ihrem Tod im Jahr 1992. Auf der Website des Films gibt es weitere Informationen sowie einen Studienleitfaden.
Und die Harmonie der Bettwäsche? Schon stark von ihrer Krankheit gezeichnet, liegt Lorde in einer Berliner Wohnung in einem Bett. Sie soll gefilmt werden und protestiert. Kopfkissen- und Bettbezug passten nicht zusammen. "Ihr müsst mehr darauf achten", sagt sie, "denn nachts machen wir unsere Augen zu und das dritte Auge erwacht – das mag nur Harmonie."
AVIVA-Tipp: Der Film zeigt Audre Lorde in all ihren Facetten: eine kämpfende Schwarze Lesbe, deren Poesie aufrüttelte und berührte und deren Sprache sich tatsächlich in Aktion verwandelte.
Zeitgleich mit dem Film ist das Buch "Euer Schweigen schützt euch nicht – Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland" erschienen. Beides ergänzt sich aufs Beste miteinander!
Die Produzentin: Dagmar Schulz, 1941 in Berlin geboren, studierte zunächst an der Freien Universität Berlin und studierte und arbeitete dann in den USA und in Puerto Rico. Von 1973 bis 1986 lehrte Dagmar Schultz am John F. Kennedy Institut für Nordamerikastudien an der Freien Universität Berlin und habilitierte 1989 am Soziologischen Institut der FU. Von 1991 bis 2004 war sie Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Sie war Mitgründerin des Feministischen Frauengesundheitszentrum Berlin und des Orlanda Frauenverlags, den sie bis 2001 als Verlegerin leitete. Mehr Infos unter: dagmarschultz.com
Zu Audre Lorde: Audre Lorde arbeitete nach dem Studium zunächst als Bibliothekarin, später war sie Professorin am Hunter College in New York City. 1968 veröffentlichte sie ihren ersten Lyrikband "The First Cities". In den nächsten 25 Jahren folgten zehn weitere Lyrikbände sowie der autobiographische Roman "Zami" und eine Reihe von Essaybänden. Sie erhielt eine Vielzahl von Literaturpreisen, und drei Universitäten verliehen ihr den Titel der Ehrendoktorin. 1991 wurde sie mit dem renommierten "Walt Whitman Citation of Merit" zum New York zur Dichterin des Staates New York ernannt. Audre Lorde starb 1992 im Alter von 58 Jahren an Brustkrebs. (Verlagsangaben)
Audre Lorde – die Berliner Jahre 1984 – 1992
Ein Film von Dagmar Schultz
Deutschland, 2012
Originaltitel: Audre Lorde – The Berlin Years 1984–1992
Regie, Produktion: Dagmar Schultz
Buch: Dagmar Schultz, Ika Hügel-Marshall, Ria Cheatom, Aletta von Vietinghoff
Kamera: Dagmar Schultz und Michael Seidel, Ika Hügel-Marshall, Jutta Leite, Wiebke Aschenborn, Angela Kling, Petra Weber, Elisabeth Abraham
Verleih: Salzgeber, VÖ 12.11.2012
EAN 4040592004822
Sprache: englisch-deutsche Originalfassung
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch
Gesamtspieldauer: 79 min
Extras: Kinotrailer, zusätzliche Szenen, Filmmusik, Lesungen, Interview mit der Regisseurin Dagmar Schultz, Feature: "Audre und ihre Arbeit"
FSK: 6 Jahre19,90 Euro
www.delicatessen.org
Die Website zum Film: www.audrelorde_theberlinyears.com
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"Euer Schweigen schützt euch nicht" – Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland, herausgegeben von Peggy Piesche, erschienen im Orlanda Verlag
Noah Sow - Deutschland Schwarz Weiß - Der alltägliche Rassismus